9
Apr
2013

Der vierte Tag

Ich schreibe gegen das Vergessen. Die Vergangenheit scheint mir so weit weg. Ich denke: "Das hast du doch irgendwo gelesen, das hast du doch nicht erlebt. Aber es gibt sicher noch Menschen, die mit mir dabei waren. Die mit mir in der Vergangenheit die Zukunft, unsere Gegenwart bereitet haben.
Was ist eigentlich aus meinen Kollegen geworden, mit denen ich früher zusammen auf großer Fahrt war? Viele werden wahrscheinlich schon gestorben sein. Ob noch jemand fährt? Im Internet habe ich eine Seite gefunden, auf der Seeleute einander suchen können. Heißt „Seeleute suchen Seeleute“. Da habe ich mal den Schiffsnamen „Rothenstein“ eingegeben und bin gleich bei meiner abenteuerlichsten Reise gelandet. Titel: „Die legendäre Magellan – Reise der Rothenstein“ - so steht es im Internet. Da ist die Rede von Valpo und Revolver-Berta. Revolver-Berta, Zuhälterin aus Valparaiso, die Rasierklingen im Ausschnitt aufbewahrte, immer griffbereit, um damit ihren Mädchen, ihren Chicas, den rechten Weg zu weisen: mit Schnitten in den rechten Arm und wer weiß wo sonst noch. Aber auch von der Fahrt durch den Magellan-Kanal zwischen Patagonien und Feuerland. Zwei Wochen haben wir da unten in Punta Arenas gelegen, der südlichsten Hafenstadt der Welt. Dann ging es weiter durch die Schärenlandschaft Süd-Chiles. Wann war das? Anfang neunzehnhundertsiebzig.
Die Rothenstein. Ein Traumschiff. Wie Hollywood. Gebaut 1939. Im Krieg als gepanzerter Hilfskreuzer unterwegs. Nach Kriegsende versenkt. Von den Belgiern gehoben und wieder fahrtüchtig gemacht auf der Cockerill-Werft in Antwerpen. Anfang der fünfziger Jahre an den Norddeutschen Lloyd zurückverkauft. Drei Hauptmotoren, drei Schrauben. Vier große Masten, zwei vorn zwei achtern. Aufbauten mittschiffs mit umlaufendem Promenadendeck. Acht Passagierskammern, ein prächtiger Salon. Ein dicker gelber Schornstein oberhalb der Aufbauten.

19
Mrz
2013

Wie es anfängt, wie fängt es an?

Alles fing damit an, dass ich alt wurde. Dass ich alt geworden war, und es nicht bemerkt hatte. Wie alt, wie weiß der Bart, wie steif die Knochen. Und wie weit entfernt die Lust zu leben. Wie weit zurückgewichen alles, was mir mal wichtig war.
Und da hab ich nachgedacht. Was war denn wichtig? Und wann war es wichtig? Für mich - für andere.


Jetzt geht es weiter

ORTBURG
Unter mir rast ein Zug hindurch. Ein ICE auf dem Weg vom Ruhr­gebiet nach Bremen. Ich stehe auf der Brücke über die Bahnlinie Bremen – Osnabrück in Lausen. Viele Geleise sind zu sehen. Lausen gehört zu Werte. Und ein Teil von Werte ist Kirchwerte: vor vielen Jahren ein ganz großer Güterverschiebebahnhof. Hier wurden die Kohlen- und Erzzüge neu zusammengestellt in Richtung Bremen, Hamburg oder Westdeutschland.
Das ist alles schon lange her. Heute ist hier ein ganz normaler Haltepunkt. Aber immer noch wohnen viele Leute von der Bahn hier. In kleinen Ortsteilen, die Siedlungen genannt werden. Ich bin keiner von der Bahn, wohne aber in einer solchen Siedlung.
In meiner Vorstellung sind Siedler die Menschen, die den Wilden Westen erobert haben. Die Pioniere des Neunzehnten Jahrhunderts. Natürlich entspringt diese Vorstellung nicht eigenen Erlebnissen, es sind Erinnerungen an Wildwestfilme der fünfziger Jahre: also beinahe eigene Erinnerungen. Wir haben als Jungs diese Filme immer nachgespielt. Mal als Cowboy, mal als Indianer.
Aufgewachsen bin ich in Ortburg, sieben Kilometer von hier. Ortburg war viel schöner als Werte. Ist es heute noch: Ein Dorf mit achthundert Einwohnern. Verstreute Bauernhöfe, eine Windmühle, im Ortskern zwei Kneipen. Gelegen am Geestrand. Ein Teil des Ortes ist hügelig mit sanften Buckeln. Darauf kleine Kiefernwälder, abwechselnd mit Äckern und Buschreihen, die im Süden an ein großes Waldgebiet angrenzen Die tief gelegene Bruchlandschaft im Osten gehört schon zur Wesermarsch. Dazwischen das Dorf.

16
Mrz
2013

Zweiter Schritt

Sturm.
Jetzt hat die See nichts mehr mit einem ruhigen Acker ge­mein, kein Säu­seln, kein gleichmäßiges Atmen, kein Plätschern, keine Melodien und sanften Harmonien mehr. Das hier ist was ganz anderes. Das hier ist Hard­rock. Heavy metal! Wild! Beängstigend schön.
Nicht das Schiff fährt über die See – die See fährt das Schiff, sie nimmt es, wirft es, lässt es auf Wellenkämme stei­gen, zieht diese wieder weg, lässt es fallen und schleudert es hin und her. Gibt zwischen­durch Ruhe. Schlägt er­neut zu. Diesmal von der anderen Sei­te. Der Sturm reißt die Wol­ken auf. Die Sonne knallt auf das Wellengebirge. Wie ein Püppchen, so zerbrechlich, tanzt das Boot in rot und weiß und grün auf den schwarzen Wellenbergen.

Am frühen Mor­gen, als der Sturm vorbei ist, streichelt die Son­ne ein sanftes, frisch ge­waschenes Meer. Kreischende Möwen segeln und Seehunde lassen sich träge treiben.
Das Boot folgt ruhig und stetig seinem Kurs.
Kaffeeduft liegt in der Luft.

14
Mrz
2013

Am Anfang des Weges

Rote-Portrait-Ingo-2012
Prolog

Die Achterleine fällt mit einem Platschen ins Was­ser. Langsam, ganz ohne Maschi­nenkraft, bewegt sich das Boot vom Anleger fort. Von kräftigen Armen wird die Leine herein geholt. Das graue Was­ser im Hafen ist spiegelglatt. Noch stört nichts die Stille. Selbst der Wind rührt sich nicht.
Mit einem lauten Schnaufen springt die Maschine an. Der Propeller schlägt blasigen Schaum am Heck des Schiffes, das sich jetzt langsam nach vorne bewegt. Die schmale Hafeneinfahrt mit dem roten Zeichen auf der einen und dem grünen auf der an­deren Seite kommt gemächlich auf das Boot zu. Ein kurzer Stopp. Das Schiff ändert ein we­nig die Rich­tung und fährt dann mit höherer Geschwindig­keit zwi­schen der Mole und dem hölzernen Dalben hin­durch auf das Fahrwasser zu. Die Ebbe hat das Wasser mitgenommen. Vom Watt her, das zum Greifen nahe scheint, strömt fauliger Dunst. Der Priel führt noch Wasser genug. Durch die Fahrt des Schiffes entstehen mitlaufende Wellen, die kleine mat­schige braune Stücken der Wattkante abbrechen und mitreißen. Nach einigen Minuten ist das Boot im tiefen Wasser und richtet seinen Kurs auf die offene See. Die Wattkanten entfernen sich immer mehr und sind nach eini­ger Zeit nicht mehr auszumachen. Das An- und Ab­schwellen der Wellen erinnert an ein gleichmäßiges Atmen. Jede siebte ist größer als ihre Vorgängerin, sagt man.
Rund um das Boot dehnt sich das graue Wasser. Unter dem dunklen, bedeckten Himmel sieht es aus wie ein frisch ge­pflügter Acker, so ruhig und gleichför­mig. Auf der Backbord­seite zieht sich das Fest­land immer weiter zu­rück. Voraus kommt langsam eine Insel in Sicht. Querab an der Steuerbordseite steht ein rotweiß gestreifter Leucht­turm. Jetzt ist auch wieder Wind zu spü­ren. Der Fahrtwind. Er zeigt an, dass das Schiff mittlerwei­le mit Höchstgeschwindigkeit fährt. Der Bug teilt das stahlgraue Wasser, das sich weiß schäumend auf die Seite wirft und sich hinter dem Schiff mit dem wirbelnden Schrau­benwasser zu einer hellen Stra­ße vereinigt. Das Festland und die Insel sind hin­ter dem Horizont verschwunden. Langsam wird die See bewegter. Auch das Boot bewegt sich mehr. Der Zug nach vorn ist nicht mehr so gleichmä­ßig. Manchmal bremst eine große Welle das schnelle Vorwärtskommen, dann trampelt das Schiff auf der Stel­le, um da­nach wie aus einem Sprung vorwärts zu schnel­len. Der bedeckte Himmel ist wolkig geworden. Zwischen den Wolken scheint ab und zu die Sonne und färbt das Wasser grün. Ein edles, gedämpftes Grün, nicht wie Gras, eher grau-grün, wie die Au­genfarbe mancher Menschen, bei denen es nicht klar ist, sind sie grau oder grün. Das Auge sieht kein Land mehr, nur noch Wasser, Wasser, Wasser.
Unbemerkt hat der Wind gedreht und sich dabei verstärkt. Er zwingt den Wellen seine Richtung auf. Sie sind höher geword­en und kommen jetzt von der Backbordseite. Das Boot ändert seinen Kurs und fährt Wind und Wel­len entge­gen . Das Wasser rauscht unter dem Rumpf hin­durch und spritzt manchmal schon an Deck. Der Wind nutzt Mast und Drahtverspan­nung wie ein Instrument: klagend und jaulend, sir­rend und pfeifend. Auch das Schiff ist lauter ge­worden: die Motorenge­räusche schwellen an und ab; aufwärts, wenn es gegen die Wellen kämpft dröhnender und härter, ab­wärts leiser, aber gejagter.
Die Wolken rasen schon über den Himmel. Voraus türmen sie sich dunkel auf. Sie haben die Sonne verdeckt. Rund um das Wolkengetürm wabert gelbliches Leuchten. Blitze zucken über den schwarzen Himmel und das Boot springt in ein tiefes Wellental. Als es wieder heraus ge­dampft ist, schüttelt der Wind es kräftig durch.
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Kleines Dorf Großer Ocean

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