Am Anfang des Weges

Prolog
Die Achterleine fällt mit einem Platschen ins Wasser. Langsam, ganz ohne Maschinenkraft, bewegt sich das Boot vom Anleger fort. Von kräftigen Armen wird die Leine herein geholt. Das graue Wasser im Hafen ist spiegelglatt. Noch stört nichts die Stille. Selbst der Wind rührt sich nicht.
Mit einem lauten Schnaufen springt die Maschine an. Der Propeller schlägt blasigen Schaum am Heck des Schiffes, das sich jetzt langsam nach vorne bewegt. Die schmale Hafeneinfahrt mit dem roten Zeichen auf der einen und dem grünen auf der anderen Seite kommt gemächlich auf das Boot zu. Ein kurzer Stopp. Das Schiff ändert ein wenig die Richtung und fährt dann mit höherer Geschwindigkeit zwischen der Mole und dem hölzernen Dalben hindurch auf das Fahrwasser zu. Die Ebbe hat das Wasser mitgenommen. Vom Watt her, das zum Greifen nahe scheint, strömt fauliger Dunst. Der Priel führt noch Wasser genug. Durch die Fahrt des Schiffes entstehen mitlaufende Wellen, die kleine matschige braune Stücken der Wattkante abbrechen und mitreißen. Nach einigen Minuten ist das Boot im tiefen Wasser und richtet seinen Kurs auf die offene See. Die Wattkanten entfernen sich immer mehr und sind nach einiger Zeit nicht mehr auszumachen. Das An- und Abschwellen der Wellen erinnert an ein gleichmäßiges Atmen. Jede siebte ist größer als ihre Vorgängerin, sagt man.
Rund um das Boot dehnt sich das graue Wasser. Unter dem dunklen, bedeckten Himmel sieht es aus wie ein frisch gepflügter Acker, so ruhig und gleichförmig. Auf der Backbordseite zieht sich das Festland immer weiter zurück. Voraus kommt langsam eine Insel in Sicht. Querab an der Steuerbordseite steht ein rotweiß gestreifter Leuchtturm. Jetzt ist auch wieder Wind zu spüren. Der Fahrtwind. Er zeigt an, dass das Schiff mittlerweile mit Höchstgeschwindigkeit fährt. Der Bug teilt das stahlgraue Wasser, das sich weiß schäumend auf die Seite wirft und sich hinter dem Schiff mit dem wirbelnden Schraubenwasser zu einer hellen Straße vereinigt. Das Festland und die Insel sind hinter dem Horizont verschwunden. Langsam wird die See bewegter. Auch das Boot bewegt sich mehr. Der Zug nach vorn ist nicht mehr so gleichmäßig. Manchmal bremst eine große Welle das schnelle Vorwärtskommen, dann trampelt das Schiff auf der Stelle, um danach wie aus einem Sprung vorwärts zu schnellen. Der bedeckte Himmel ist wolkig geworden. Zwischen den Wolken scheint ab und zu die Sonne und färbt das Wasser grün. Ein edles, gedämpftes Grün, nicht wie Gras, eher grau-grün, wie die Augenfarbe mancher Menschen, bei denen es nicht klar ist, sind sie grau oder grün. Das Auge sieht kein Land mehr, nur noch Wasser, Wasser, Wasser.
Unbemerkt hat der Wind gedreht und sich dabei verstärkt. Er zwingt den Wellen seine Richtung auf. Sie sind höher geworden und kommen jetzt von der Backbordseite. Das Boot ändert seinen Kurs und fährt Wind und Wellen entgegen . Das Wasser rauscht unter dem Rumpf hindurch und spritzt manchmal schon an Deck. Der Wind nutzt Mast und Drahtverspannung wie ein Instrument: klagend und jaulend, sirrend und pfeifend. Auch das Schiff ist lauter geworden: die Motorengeräusche schwellen an und ab; aufwärts, wenn es gegen die Wellen kämpft dröhnender und härter, abwärts leiser, aber gejagter.
Die Wolken rasen schon über den Himmel. Voraus türmen sie sich dunkel auf. Sie haben die Sonne verdeckt. Rund um das Wolkengetürm wabert gelbliches Leuchten. Blitze zucken über den schwarzen Himmel und das Boot springt in ein tiefes Wellental. Als es wieder heraus gedampft ist, schüttelt der Wind es kräftig durch.
Heinrich Dreigin - 14. Mär, 19:05