14
Mrz
2013

Am Anfang des Weges

Rote-Portrait-Ingo-2012
Prolog

Die Achterleine fällt mit einem Platschen ins Was­ser. Langsam, ganz ohne Maschi­nenkraft, bewegt sich das Boot vom Anleger fort. Von kräftigen Armen wird die Leine herein geholt. Das graue Was­ser im Hafen ist spiegelglatt. Noch stört nichts die Stille. Selbst der Wind rührt sich nicht.
Mit einem lauten Schnaufen springt die Maschine an. Der Propeller schlägt blasigen Schaum am Heck des Schiffes, das sich jetzt langsam nach vorne bewegt. Die schmale Hafeneinfahrt mit dem roten Zeichen auf der einen und dem grünen auf der an­deren Seite kommt gemächlich auf das Boot zu. Ein kurzer Stopp. Das Schiff ändert ein we­nig die Rich­tung und fährt dann mit höherer Geschwindig­keit zwi­schen der Mole und dem hölzernen Dalben hin­durch auf das Fahrwasser zu. Die Ebbe hat das Wasser mitgenommen. Vom Watt her, das zum Greifen nahe scheint, strömt fauliger Dunst. Der Priel führt noch Wasser genug. Durch die Fahrt des Schiffes entstehen mitlaufende Wellen, die kleine mat­schige braune Stücken der Wattkante abbrechen und mitreißen. Nach einigen Minuten ist das Boot im tiefen Wasser und richtet seinen Kurs auf die offene See. Die Wattkanten entfernen sich immer mehr und sind nach eini­ger Zeit nicht mehr auszumachen. Das An- und Ab­schwellen der Wellen erinnert an ein gleichmäßiges Atmen. Jede siebte ist größer als ihre Vorgängerin, sagt man.
Rund um das Boot dehnt sich das graue Wasser. Unter dem dunklen, bedeckten Himmel sieht es aus wie ein frisch ge­pflügter Acker, so ruhig und gleichför­mig. Auf der Backbord­seite zieht sich das Fest­land immer weiter zu­rück. Voraus kommt langsam eine Insel in Sicht. Querab an der Steuerbordseite steht ein rotweiß gestreifter Leucht­turm. Jetzt ist auch wieder Wind zu spü­ren. Der Fahrtwind. Er zeigt an, dass das Schiff mittlerwei­le mit Höchstgeschwindigkeit fährt. Der Bug teilt das stahlgraue Wasser, das sich weiß schäumend auf die Seite wirft und sich hinter dem Schiff mit dem wirbelnden Schrau­benwasser zu einer hellen Stra­ße vereinigt. Das Festland und die Insel sind hin­ter dem Horizont verschwunden. Langsam wird die See bewegter. Auch das Boot bewegt sich mehr. Der Zug nach vorn ist nicht mehr so gleichmä­ßig. Manchmal bremst eine große Welle das schnelle Vorwärtskommen, dann trampelt das Schiff auf der Stel­le, um da­nach wie aus einem Sprung vorwärts zu schnel­len. Der bedeckte Himmel ist wolkig geworden. Zwischen den Wolken scheint ab und zu die Sonne und färbt das Wasser grün. Ein edles, gedämpftes Grün, nicht wie Gras, eher grau-grün, wie die Au­genfarbe mancher Menschen, bei denen es nicht klar ist, sind sie grau oder grün. Das Auge sieht kein Land mehr, nur noch Wasser, Wasser, Wasser.
Unbemerkt hat der Wind gedreht und sich dabei verstärkt. Er zwingt den Wellen seine Richtung auf. Sie sind höher geword­en und kommen jetzt von der Backbordseite. Das Boot ändert seinen Kurs und fährt Wind und Wel­len entge­gen . Das Wasser rauscht unter dem Rumpf hin­durch und spritzt manchmal schon an Deck. Der Wind nutzt Mast und Drahtverspan­nung wie ein Instrument: klagend und jaulend, sir­rend und pfeifend. Auch das Schiff ist lauter ge­worden: die Motorenge­räusche schwellen an und ab; aufwärts, wenn es gegen die Wellen kämpft dröhnender und härter, ab­wärts leiser, aber gejagter.
Die Wolken rasen schon über den Himmel. Voraus türmen sie sich dunkel auf. Sie haben die Sonne verdeckt. Rund um das Wolkengetürm wabert gelbliches Leuchten. Blitze zucken über den schwarzen Himmel und das Boot springt in ein tiefes Wellental. Als es wieder heraus ge­dampft ist, schüttelt der Wind es kräftig durch.
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Zuletzt aktualisiert: 9. Apr, 17:57

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